Wer aufmerksam durch unsere Stammsiedlung spaziert, mag sie kaum übersehen – die spezielle Fensterfront zuoberst im Hoffeld 35. Dahinter verbirgt sich die Atelierwohnung von Michèle Carg. Zwischen Leinwänden, Farbtuben und Skizzenblättern hat die 84-jährige Künstlerin über Jahrzehnte hinweg ein eindrückliches Werk geschaffen – voller Geschichten, die mit ihrer eigenen, wechselvollen Biografie verwoben sind. Bereits ihr Leben in der BBZ begann mit einem familiären Einschnitt. «Ich war ungefähr acht, neun Jahre alt, als wir in den 1940er-Jahren hierhergezogen sind. Mein Vater hatte davor sein Gehör verloren, seine Stelle und unser Zuhause in der Region Basel gleich mit dazu. Er folgte seiner Leidenschaft, dem Malen, und bekam hier eine der neugebauten Atelierwohnungen mit Nordlicht – perfekte Bedingungen für einen Künstler. Ich profitiere bis heute davon.»

Zuhause und Arbeitsort: Atelierfenster zuoberst im Hoffeld 35.

Wilde Kindheit, erste Bühne

Die BBZ wurde zu ihrem ersten grossen Erfahrungsraum. «Die Kindheit war wunderbar. Wir hatten so viele Freiheiten. Ich war wild, ungestüm – und nicht gerade ängstlich. Immer mal wieder bin ich durch die Dachluke geklettert, um in der Regentraufe einen Ball zu holen oder um die anderen zu beeindrucken», sagt sie augenzwinkernd. Spielen mussten die Kinder auf der Strasse. Rasen betreten verboten! «Der damalige Präsident Schoch patrouillierte hoch zu Ross, um nach dem Rechten zu sehen. Autos gab es praktisch keine, trotzdem sind wir gleich wieder auf den Rasen, kaum war er um die Ecke…» Auch der Hauskeller gehörte zu diesem geliebten Kinderalltag. «Wir haben dort Film- und Theateraufführungen organisiert. Das war ganz mein Element.»

Geerbte Leidenschaft

Mit elf Jahren führte das Schicksal erneut Regie. Michèles Mutter starb unerwartet. Ihr grösster Lebenseinschnitt, wie sie betont. «Von Mutter habe ich die Liebe zum Theater. Als Pianistin und Violinistin war sie ebenfalls Künstlerin durch und durch», so Carg. Zusammen besuchten sie das Ballett am Stadttheater, dem heutigen Opernhaus. Sogar auftreten durfte das Mädchen einmal – im «fidelen Bauern». Eine Leidenschaft, die sie nie mehr loslassen sollte. Als Teenagerin spielte sie mit der Theatergruppe Friesenberg, mit 18 Jahren bereits als Profi bei der Zürcher Märchenbühne im Bernhard Theater. Ihre erste Rolle: Prinzessin Goldhaar im tapferen Schneiderlein. «Das Schneiderlein spielte Jörg Schneider», sagt sie mit leuchtenden Augen, als ob es gestern gewesen wäre. In der Garderobe ging sie derweil einem anderen Talent nach und porträtierte zum allgemeinen Vergnügen Ines Torelli, Margrit Rainer und weitere Schauspiel-Kolleg*innen. Das Zeichnen und Malen begleitete sie fortan auf allen Stationen. Beim Schauspielunterricht, bei weiteren Theaterengagements oder bei kleinen Filmrollen. «Während eines Engagements in Bonn malte ich in der Freizeit Theaterszenen auf Porzellan. Das gefiel der renommierten Porzellanmanufaktur Hutschenreuther so gut, dass sie die Sujets in Serie brachten. Pro Idee verdiente ich mehr als in einem Monat beim Theater», kann sie es heute noch kaum glauben. Zeit für eine längere Bühnenpause. Sie packte ihre Koffer in das erste Auto einer Freundin und fuhr gemeinsam mit ihr los: Frankreich, Spanien, Marokko – «zum Malen von Landschaften».

Carg bei einer ihrer ersten Ausstellungen.

Die Malerei wird zur Bühne

«Zurück in Zürich belegte ich Aktzeichenkurse an der ETH und begann vermehrt mit Öl auf Leinwand zu malen». Erste Ausstellungen liessen nicht lange auf sich warten und die Malerei drängte den Schauspielberuf mehr und mehr in den Hintergrund. Nicht aber die Bühne. «Ich fand zu einem Stil, der meiner Theaterseele entspringt: poetisch, doppeldeutig, erzählerisch». «Ihre Bilder führen in märchenhafte Traumwelten», wie es eine Zeitung einmal beschrieb. Mit Tänzerinnen, Harlekinen, Feen, Musikerinnen, Mutter-Kind-Szenen. «Mich fasziniert die Metamorphose. Wie sich etwas verwandeln, kippen, verdoppeln kann – ohne sich festzulegen», erklärt Carg. Mit Ende 20 verkauft sie ihre Bilder ins Ausland, wird in Zeitschriften porträtiert und – das Schweizer Fernsehen kommt in die BBZ zur aufstrebenden Künstlerin. Im Hoffeld 35 werden 1968 Gleise für Kamerafahrten verlegt, Filmaufnahmen gemacht und Stimmungen eingesammelt.

1968 besucht das Schweizer Fernsehen das Atelier im Hoffeld.

Etablierte Künstlerin und Mutter

Eine wahre Erfolgsgeschichte setzte ein. Besonders stolz ist sie auf den Auftrag für ein grosses Wandbild im Bethesda-Pflegeheim in Küsnacht, aber auch auf Ausstellungen in Wien, Salzburg, Bonn, mehrere Jurypreise für Weinetiketten, Porträts in der Annabelle, in Kunstmagazinen. «Sammlerinnen aus der Theater- und Opernwelt kauften meine Bilder genauso wie Grössen aus der Wirtschaft», sagt sie. Der Name der Swatch-Dynastie Hayek fällt.

Cargs grösste Arbeit: 8-Quadratmeter-Wandbild in Küsnacht.

Ihr allergrösster Wunsch ging jedoch mit 41 Jahren in Erfüllung: Sohn Jerome kam zur Welt. Eine weitere Rolle, die der Mutter, floss in ihre künstlerische Arbeit mit ein. Carg verfasste und illustrierte ausserdem Kindergeschichten und Märchen, die auch auf Kassetten erhältlich waren. Bis heute bereist sie mit Jerome die Welt. «Ich zeigte ihm früh schon unseren faszinierenden Planeten, die vielen Kulturen. Immer individuell, nie pauschal», betont sie, «und auch mal mit dem Einbaum-Boot auf Sulawesi», ergänzt sie schmunzelnd. Und ihre erste Reise? «Als Kind fuhr ich einmal unangekündigt mit dem Velo nach Basel – zusammen mit Ruth Bickel, die heute ebenfalls noch in der BBZ lebt. Wir wussten: einfach dem Rhein entlang. Irgendwann kommt man an.»

Voller Kreativität und Weitblick: Michèle Cargs Welt.

Angekommen ist sie definitiv im Hoffeld – trotz aller Abenteuer und Lust am Neuen («In jüngster Zeit experimentiere ich mit der abstrakten Malerei.»). «Ich habe die BBZ immer als etwas Besonderes empfunden. Als Raum, in dem auch Ungewöhnliches möglich war – und ist.» Wer mit diesem offenen Blick am Hoffeld 35 vorbeigeht, sieht zuoberst jetzt vielleicht etwas mehr als eine spezielle Fensterfront.

Immer neue Wege: Carg entdeckt neu auch die Akstraktion.

michelecarg.com

Text: Philipp Grünenfelder
Fotos: Philipp Grünenfelder; zvg

 

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